>> Berge und See, fremde Nähe <<
Es sind kleine, grau-vergilbte Fotografien, mit den geriffelten Schmuckrändern der Fünfzigerjahre, die für Susanne Kiebler am Anfang ihrer aktuellen künstlerischen Konzeption stehen.
Susanne Kiebler findet sie an Orten, an denen diese fotografischen Dokumente einer vergangenen Zeit entsorgt werden sollten, im Müll, im Wertstoffhof, in achtlos beiseite geräumten Alben. Aber es sind nicht die persönlichen Schnappschüsse, die privaten Zeugnisse eines fremden Lebens, die Susanne Kiebler interessieren. Sie wählt vielmehr nur diejenigen Fotografien aus, deren Motive, Gebirgszüge oder Wasserflächen, in der ursprünglichen Schwarz-Weiß-Wiedergabe, in langer Zeit der Archivierung zu Grautönungen gewandelt, unscheinbar, fast unbestimmt erscheinen. Gepresst in das winzige 4,5x6-Format, vermitteln diese Landschaftsansichten, von ihren laienhaften Fotografen aus allzu großer Ferne aufgenommen, ereignislose Weite, belanglose Blicke auf verschiedene Naturmotive.
Es sind aber gerade diese Motive, die Susanne Kieblers künstlerische Arbeit anstoßen und diese in sehr unterschiedliche Richtungen lenken: Sie überträgt diese landschaftlichen Motive, die nur vereinzelt, meist in erheblicher Distanz menschliche Erscheinungen aufnehmen, in Tuschezeichnungen. Der kräftige Pinselstrich, die oft feucht aufgetragenen Schwarzgrautönungen treiben die Unbestimmtheit der fotografischen Vorlage weiter, lösen deren Strukturen schneebedeckter Gebirgsketten, einer sonnenbeschienenen Uferlandschaft auf zu Flächen, Schraffuren, Linienverläufen. Nur sparsam, mit feinerem Pinselstrich, konturiert die Künstlerin diese Landschaftsandeutungen. Auf diese Weise entsteht, Blatt für Blatt, ein Zeichenwerk auf Papier, dem Material, das Susanne Kiebler in seiner Vielfältigkeit und Flexibilität besonders schätzt.
Papierarbeiten sind es auch, die bei einer gänzlich anderen Weiterverarbeitung der fotografischen Fundstücke entstehen: Susanne Kiebler fotokopiert die gewählten Fotografien und vergrößert sie dabei mehrfach – bis ungegenständliche, grobkörnige Flächen, in vielfältigen Graustufungen, manchmal durchmischt von Sepiatönungen, erscheinen. Manche dieser Blätter lässt die Künstlerin für sich stehen, andere übermalt sie, eher beiläufig, hier und da eine Struktur verstärkend.
Eine besondere Form der Annäherung an die fotografischen Vorlagen verfolgt Susanne Kiebler in Blindzeichnungen: Vor ihr liegt eine Fotografie und ein Zeichenpapier, ihr Blick fixiert nur das Foto, die Zeichenhand mit dem Tuschepinsel verselbständigt sich und erfasst, ohne visuelle Führung, die wesentlichen Züge der geschauten Motive. Es bilden sich reduzierte Lineaturen, die dem Papiergrund weiße Flächen lassen, sich blind gezeichnet ineinander verschränken, unvermittelt abbrechen, neu ansetzen oder in einem Schwung die beobachtete Bergkuppe bis hart an den Papierrand ziehen – und so das Unendliche von Landschaft, die bloße Ausschnitthaftigkeit, auf die das menschliche Gesichtsfeld begrenzt ist, einfach erklären.
Die Tuschezeichnungen, die übermalten Fotokopien und die Blindzeichnungen, alle im einheitlichen A5-Format, montiert Susanne Kiebler zu einem großen Wandbild (220/220 cm): „Berge und See“.
In der quadratischen Anlage des Wandbilds verweisen die einzelnen Blätter, 240 insgesamt, wie in einem komplexen, letztlich nicht lösbaren Memoryspiel aufeinander und fordern die Aufmerksamkeit des Betrachters heraus: Die Reduziertheit der Blindzeichnungen, die Hell-Dunkel-Gegensätze der Tuschezeichnungen, die flächige Ungegenständlichkeit der hochkopierten Fotografien zeigen Verwandtschaft an, in der wie zufälligen Anordnung reichlich verzweigt, aber die strukturellen Ähnlichkeiten bieten nur eine erste Orientierung: jedes Blatt ist einzeln zu sehen, die vielseitige Nachbarschaft der anderen Blätter nach und nach zu wahrzunehmen.
Die besondere gegenseitige Verweisbarkeit der „Berge und Seen“-Blätter nimmt Susanne Kiebler auch in anderer Form auf: In dichter Folge werden die Blätter, in ihrer unterschiedlichen Genese wechselnd, von links nach rechts zu einer Zeile auf einem Aluminiumstrang (14,5 x 146 cm) formiert. Die entstehenden, querformatigen Zeilenbilder, in denen Ferne und Nähe, Fläche und Linie der Landschaftsdarstellung von Blatt zu Blatt variieren, veranschaulichen einen wesentlichen Ansatzpunkt der Künstlerin: Ihr gehe es darum, Unbestimmbarkeit zu untersuchen, in einem Medium wie der Zeichnung, das zunächst durch das Vorherrschen der Linie ja bestimmt erscheine – und dennoch gebe es eine faszinierende Vielfalt der Möglichkeiten, es könne so sein, und so, oder auch so.
In ihren malerischen Arbeiten experimentiert Susanne Kiebler mit den Chancen des Unbestimmten noch ausdrücklicher: Farbschüttungen, die, aufgetragen auf den Grauweißtönungen des Hintergrunds, entlang der Schüttrichtung horizontale Bildleinteilungen entstehen lassen, entziehen sich der definierten Planung, sind unkontrollierbar. Plexiglasscheiben, mit Farbe bestrichen, mit Sand oder Zucker bestreut, werden auf den Malgrund gepresst, ihr Abdruck ergibt in Form und Farbintensität unkalkulierbare Strukturen. Aber dem Zufall überlässt sich die Künstlerin nicht völlig: Sie greift ein, zieht Farbschlieren mit dem Pinsel in Richtung, weitet sie flächig aus und schafft Vielschichtigkeit, indem sie bemalte Papiere oder Fotokopien, fetzig gerissen oder auch in Form geschnitten, dazu collagiert.
„Fremde Nähe“ titelt die Künstlerin eine Serie großformatiger Arbeiten (60 x 160 cm / 100 x 180 cm), die anders als die Tuschezeichnungen und auch die kühl in blaugrau gehaltenen „Seestücke“ von bewegter Farbigkeit sind. Den grün-blauen Mischtönen, die Susanne Kiebler immer wieder variiert und nicht selten aus dem eingetrockneten Schmutzwasser vorausgegangener Malprozesse gewinnt, stehen neuerdings ungestüme violette Farbtürmungen gegenüber. Wolkenlandschaften vor dunklem Horizont, der spärliche Lichtpunkte verdrängt – so nah die Landschaftsassoziation auf den ersten Blick erscheint, weiteren Blicken wird diese Ansicht immer fremder, zu offen und unbestimmt ist das Bild, das Susanne Kiebler schafft.
Der Rückgriff auf Landschaftsfotografien fremder Archiven gerät zu einer Reflexion über den Einsatz malerischer Mittel im Bild und oszilliert zwischen gegenständlicher malerischer Tradition und Strategien der ungegenständlichen Moderne. Ihre Bilder zeigen auf, wie spannungsvoll- gegensätzlich sich Landschaftsmalerei in der Gegenwartskunst zu positionieren vermag.
Dolores Claros-Salinas